DIE „ÖKOLOGIE DES MENSCHEN“ UMSETZEN

foto Gänswein

von Pierluca Azzaro

Hoffnung und Auftrag: die Reden von Benedikt XVI. zur Politik. Dieses Thema stand auf der Tagesordnung der renommierten Gelehrten, die am 25. und 26. November auf Einladung der „Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.- Stiftung“ nach Berlin gekommen sind, um über die theologischen, philosophischen und anthropologischen Aspekte der großen Reden nachzudenken, die Benedikt XVI. zum Thema Politik – und vor allem deren ethischen Grundlagen – gehalten hat. So schien es fast schon auf der Hand zu liegen, dass dieses bedeutende Symposium am Nachmittag des 25. November im Berliner Reichstag eröffnet wurde, und dass nun – vier Jahre nach der denkwürdigen Ansprache Benedikts XVI. vor dem Deutschen  Bundestag – kein Geringerer als sein Privatsekretär, Erzbischof Dr. Georg Gänswein, langjähriger Dozent für Kirchenrecht in Rom, die zentrale Ansprache hielt: Hoffnung und Verantwortung. Die großen gesellschaftspolitischen Grundthemen von Papst Benedikt XVI. Darin stellte der heutige Präfekt des Päpstlichen Hauses u.a. klar, dass der Glaube gute Politik zwar möglich mache, diese aber nicht von der Kirche gemacht werden könne und dürfe. Vorausgegangen waren dieser Rede vor mehr als 500 Teilnehmern – darunter über 50 Parlamentarier sowie der Apostolische Nuntius in Berlin, Erzbischof Dr. Nikola Eterovic – die Grußadressen von Johannes Singhammer, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, und  Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Auf der lehramtlichen Linie der „Regensburger Rede“ von Papst Benedikt warnte Erzbischof Gänswein vor der Gefahr der Priesterherrschaft, bzw. vor der Versuchung, den Glauben mit physischer oder moralischer Gewalt aufzwingen zu wollen. Und doch wollte er, mit Verweis auf das, was der emeritierte Papst nach Regensburg in der Westminster Hall in London betont hatte, hervorheben, dass es gerade der Glaube sei, der – in Harmonie mit der Vernunft – eine gute und gerechte Politik möglich mache: schließlich impliziere das Verständnis vom Menschen als einem nach dem Ebenbild eines guten Creator spiritus geschaffenen Wesen auch, dass das Leben des Menschen als Person heilig ist und unter dem besonderen Schutz Gottes steht. Und das wiederum impliziere auch, dass der Mensch, was die menschlichen Gesetze angeht, über ein unveräußerliches Recht verfügt, das von Gott selbst gegeben ist und das kein menschliches Gesetz verletzen dürfe: dass der Gehorsam des Menschen Gott gegenüber also auch die Grenze festlege, bis zu der dem Staat gegenüber Gehorsam geboten ist. Erzbischof Gänswein fragte sich dann, welche Aufgabe die Christen aus dieser Perspektive heute in der Politik hätten, Christen, die darum bemüht sind, die rechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates umzusetzen. Sie wüssten gut, dass sich die Kirche zu den konkreten Lösungen, die die Politik bei der Umsetzung der Gerechtigkeit vorschlägt, nicht äußern kann und darf. Und dennoch – gerade aus dem Umstand, dass der Ursprung der Politik in der Gerechtigkeit liegt, folgt mit eben solcher Klarheit, dass dieser Ursprung, vor-politisch, ethisch ist, also einer Art, die die Politik ipso facto sich nicht von sich aus geben und festsetzen kann, auch nicht mit den demokratischsten Mitteln. Wenn sie nämlich versuchen würde, dies zu tun, würde sie Gefahr laufen, die Definition dessen, was recht und was unrecht, moralisch und unmoralisch ist, gut und was böse ist, immer wieder dem jeweiligen Nutzen und der jeweiligen Mehrheit anzupassen. Und damit würde man Gefahr laufen, letztendlich das, was die Natur des Menschen ausmacht, den Kriterien der vorherrschenden Ideologie zu unterwerfen. Doch war im Grunde genommen nicht gerade das der perverse Vorwand, den sich die großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zunutze machten –  fragt sich Georg Gänswein –, die in diesem Sinne die grundlegende Unterscheidung von geistlicher und zeitlicher Macht mit Füßen getreten haben? So ist der Christ in der Politik also jener, der – dem Salomon ähnlich (das unvergessliche Bild des gerechten Politikers, das Papst Benedikt in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag benutzte) – Gott nicht bittet, ihn mit Reichtum und Macht auszustatten, sondern ihm ein  „hörendes Herz“ zu schenken: ein Herz, das offen ist für die Stimme Gottes – also fähig, die Menschen mit demselben liebevollen Blick zu betrachten, mit dem Gott seine Geschöpfe betrachtet. Jene Geschöpfe, die er so sehr geliebt hat, dass er selbst Mensch geworden und für unser Heil gestorben ist. Mit einem solchen Blick, der das Gegenteil jenes Pragmatismus ist, der zum Zynismus wird, wird der Politiker in der Lage sein, gerecht und zum Wohle aller zu handeln, Glaubender und Nicht-Glaubender gleichermaßen. Das Verdienst des Vortrags von Georg Gänswein lag vor allem darin, dass es ihm gelungen ist, auf die verschiedenen Aspekte der „Theologie der Politik“ Joseph Ratzingers einzugehen, was dann am Tag darauf noch von anderen Rednern vertieft wurde: Berthold Wald, Professor für Systematische Philosophie in Paderborn (Christentum, säkulare Vernunft und Interkulturalität. Was die Welt zusammenbringt);  Rocio Daga-Portillo, Islam-Expertin und Lehrbeauftragte an der Universität München (Geschichte und Rechtsverständnis im Islam: Denk-Kategorien im klassischen Islam und der Umbruch der Moderne); Hw. Martin Rohnheimer, Professor für Ethik und politische Wissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Universität „Santa Croce“ in Rom (Recht und Politik: Benedikts Auseinandersetzung mit Demokratie und Rechtspositivismus); Nadja El Beheiri, Professorin für Römisches Recht an der katholischen Universität  Budapest (Die Rechtstraditionen Europas und das Naturrecht); Hanna Barbara Gerl-Falkovitz, Philosophin, Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Theologisch-Philosophischen Hochschule „Benedikt XVI.“ in  Heiligenkreuz (Mit Natur und Vernunft: Grundlegende Anfragen an die Gendertheorie); und schließlich Harald Seubert, Professor für Religionswissenschaften an der  Theologischen Hochschule Basel (Ökologie des Menschseins. Der geworfene Entwurf). Natürlich läuft man hier mit einer kurzen Zusammenfassung unweigerlich Gefahr, die Bedeutung der Vorträge zu schmälern, die an diesem arbeitsintensiven 26. November gehalten wurden. Umso bedeutungsvoller erscheint also das Versprechen, das der Präsident der  „Ratzinger-Stiftung“ und des „Ratzinger Schülerkreises“, Pater Stephan Horn, am Ende des Symposiums gegeben hat: dass die Akten  nämlich – wie von vielen der Anwesenden gefordert – in Kürze veröffentlicht würden. Die interessierte Aufmerksamkeit des Publikums spricht nicht nur für die hohe Qualität der einzelnen Beiträge, sondern auch für das harmonische Ganze, in das sie sich einfügten, und das einige Grundzüge umso klarer zutage treten ließ: der Krankheit eines nicht von der Vernunft korrigierten Glaubens, die oft in den Missbrauch der Religion bis hin zur Apotheose des Hasses abgleitet, entspricht (eine nicht minder schreckliche Gefahr!) das Risiko einer Vernunft, die sich dem Glauben verschließt; eines Herzens, das nicht mehr dem Wort Gottes lauscht: Die Krankheit eines entstellten Gewissens, das eine Sicht des Menschenrechts hervorbringt, das sich mit aller Gewalt gegen den Gedanken an Gott verwehrt. Und gerade diese Art „Gewissen“ ist es, die zu einer – ebenso schrecklichen wie paradoxen – Normierung einer endlosen Reihe nihilistischer „Menschenrechte“ führt: vom „betreuten“ Selbstmord bis hin zu den verschiedenen Ausdrucksformen der Genderideologie; oder – allgemeiner – zur Auffassung vom Menschen als  einem Wesen, das vom Menschen geschaffen wurde, der demzufolge also auch etwas ist, das – sollten die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen –  „erworben“ werden kann (man denke nur an das „Recht“, sich Kinder zu „kaufen“ in Form von eingefrorenen Embryonen; an „Leihmütter“, usw.). Dieses „Recht“ auf Leben, das nicht von Gott geschenkt und geschützt, sondern von uns „geschaffen“ wurde,  impliziert einer erbarmungslosen und perversen Logik nach sogar das „Recht“ dazu, das, was wir selbst produziert haben, auch wieder zu eliminieren. Um dieses „Produkt“ dann vielleicht in der Weise, die uns angemessen erscheint, wieder zu recyceln: bezeichnend dafür war der Fall Planned Parenthood, der bekannten amerikanischen Einrichtung, die für das „Recht“ auf Abtreibung eintritt und Teile abgetriebener Föten für hohe Summen verkaufte. Aber Planned Parenthood steht keineswegs alleine da: es gab auch Fälle britischer Gesundheitseinrichtungen, die auf Pressedruck zugeben mussten, im Laufe der Jahre in den Heizungsanlagen der Krankenhäuser zusammen mit Abfallprodukten mehr als 15.000 Föten verbrannt zu haben. Wie soll man auf solch schreckliche Szenarien und auf die Angst, die sie auslösen, reagieren? Gewiss nicht, indem man den Kopf ins Schneckenhaus zurückzieht, wie es die Schnecken tun, kaum dass man sie mit dem Zeigefinger berührt – wie Erzbischof Gänswein in der Abschlussmesse betonte, die u.a. auch vom Erzbischof von Berlin, Heiner Koch, und vom emeritierten Bischof von Graz- Seckau, Egon Kapellari, konzelebriert wurde. Im heutigen Evangelium – so fuhr er weiter fort – gehe die Beschreibung der jüngsten Ereignisse nämlich mit der tröstlichen Gewissheit einher, dass unser Herr kommen wird mit Kraft und Herrlichkeit. Dies ist die Hoffnung, die – vor allem uns Laienchristen – in dieser Zeit wahrer epochaler Umwälzungen die Kraft gibt, heute die Verantwortung zu übernehmen, die Aufgabe, die „Ökologie des Menschen“ umzusetzen; weil – wie Benedikt XVI. betonte – auch der Mensch eine „Natur“ besitzt, die ihm gegeben ist und deren Verletzung oder Leugnung zur Selbstzerstörung führt.